Wendelin Himmelheber

Warum ist der Kapitalismus immer noch da?

Bei einem Wirtschaftssystem, das so offensichtlich sinn- und sittenwidrig ist wie der Kapitalismus, stellt sich doch die Frage, warum es nicht schon längst durch ein besseres System ersetzt worden ist.

Sinnwidrig ist der Kapitalismus insofern, als wir mit einem System, das auf permanentes Wachstum setzt, den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Man hätte das schon seit Malthus wissen können (auch wenn Malthus’ Beharren auf arithmetische vs. geometrische Reihen wenig erklärt); man weiß es seit den „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (1972), und mit dem Klimawandel muss es jetzt auch den letzten klargeworden sein.

Um die Sittenwidrigkeit dieses Systems zu erkennen, muss man nur die Fabrikbrände in Bangladesh oder die Selbstmorde in den Fabriken in Shenzen bedenken. Aber auch im reichen Norden richtet das System Verheerungen verschiedenster Art an.



Wirtschaft ist das System von Sitten und Gebräuchen, das wir zur Deckung unserer materiellen Bedürfnisse entwickelt haben. Seit sich die Menschheit vom Jagen und Sammeln hin zu anderen Weisen der Bedürfnisdeckung entwickelt hat, ist ein solches System notwendig geworden. Ich spreche absichtlich von Sitten und Gebräuchen, denn was wir da haben, ist nichts Naturwüchsiges, nichts, was mit Notwendigkeit unveränderlichen Gesetzen folgt. Man denke nur an die Sitte, bunte Papierstücke zum Eintauschen nützlicher Güter zu verwenden (Geld), oder gar sich dabei auf Vorgänge in den Rechenzentren der Banken zu verlassen. So etwas funktioniert nur, weil wir „das schon immer so gemacht haben“.

Im Alten Testament wird der Wandel weg vom Jagen und Sammeln als Vertreibung aus dem Paradies beschrieben. In Gen 3, 16-17 heißt es, dass Adam danach im Schweiße seines Angesichts ackern müsse, Eva unter Schmerzen gebären – dass Eva darüber hinaus ebenfalls Arbeiten im engeren Sinne verrichten muss, auch und gerade im Rahmen traditioneller geschlechtlicher Arbeitsteilung, wird dort nicht erwähnt.

Eine absolut scharfe Abgrenzung der Wirtschaft zu anderen Systemen (Familie, Politik, Militär, ...) ist nicht möglich.

Kapitalismus soll hier verstanden werden als ein Wirtschaftssystem, das sich durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln auszeichnet. Dieser kann aber erst eine wirklich große Rolle spielen, wenn es bei den Produktionsmitteln um mehr geht als um das Werkzeug einer Handwerkerin, also erst in einem industriellen System. Industrie ist kein ausschließliches Merkmal kapitalistischer Wirtschaft, aber ein notwendiges.

(Historisch ist das falsch: der präindustrielle Manufaktur- und Verlagskapitalismus basiert bereits auf dem Privatbesitz an Produktionsmitteln. Die Unterschiede zum industriellen Kapitalismus sind aber so groß, dass er hier nicht in Betracht kommt).

In einem System mit Privatbesitz an Produktionsmitteln gibt eine Klasse, die die diese nicht besitzt und deshalb ihre Arbeitskraft verkaufen muss (Ausbeutung der Arbeiterklasse). Da durch Arbeit ein überschuss über die Menge an Gütern, die die arbeitenden Personen notwendigerweise für sich selbst benötigt, geschaffen werden kann (und mit zunehmender technischer Entwicklung und damit höherem Einsatz an Maschinerie und andern dinglichen Produktionsfaktoren – vulgo: Kapital – ein viel größerer überschuss), ist möglich, dass eine weitere Klasse von Personen, nämlich die Besitzerinnen der Produktionsmittel, sich diesen überschuss ohne eigene Arbeit aneignen kann.

Die so entstandene Verteilung des überschusses – des Mehrwerts – ist der Kern dessen, was Marx mit seiner Werttheorie erklären möchte. Dass diese Theorie möglicherweise überflüssig oder widersprüchlich oder wenig erklärend ist, muss hier nicht verhandelt werden.

Nach diesen Erläuterungen zum Verständnis des Begriffs „Kapitalismus„ ist hier noch festzuhalten, dass die derzeitige Form des Kapitalismus unauflöslich mit Wirtschaftswachstum verbunden ist. Es geht also um ein Wirtschaftssystem, das aufgrund des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln einem eingebauten Wachstumszwang unterliegt – dazu unten noch mehr.

Der große Beitrag, den allein schon das Wachstum der Bevölkerung zum Wirtschaftswachstum leistet, wird hier nicht betrachtet.



Warum also, wiederhole ich, haben wir immer noch kein besseres oder wenigstens nicht selbstzerstörendes Wirtschaftssystem?

Ich möchte hier einige Faktoren beleuchten, die zu diesem Beharrungsvermögen beitragen.


1. Appell an die niedrigen Instinkte (eins): Privatbesitz leuchtet ein

Die Logik von Mein und Dein lässt sich beim Menschen schon im Kindergartenalter beobachten. Der erbitterte Streit um die Förmchen im Sandkasten kündet davon (interessanterweise wird um den Sand nicht gestritten – anscheinend gibt es angesichts des großen überflusses an dieser Ressource dazu keine Notwendigkeit).

Ebenso scheint die Institution des Erbens einzuleuchten. Dies ist offensichtlich ein überbleibsel der Clanethik: gut ist, was meinem Clan nutzt. Wenn man seine ethischen Maßstäbe aber etwas höher setzt, wird klar, dass es für das Erben überhaupt keine gute Rechtfertigung gibt.

Auf jeden Fall ist der Brauch des Erbens eine wesentliche Stütze des Kapitalismus (allerdings auch anderer wirtschaftlicher und politischer Systeme, z.B. des Feudalismus), denn durch das Erben gelingt es, Wohlstand anzuhäufen, damit Investitionen erstmals zu ermöglichen und ihnen eine Dauer zu verleihen.

Nebenbei sie hier an den schon von Th. Roosevelt (New Nationalism-Rede, 1910) gemachten Vorschlag einer progressiven Erbschaftssteuer erinnert. („Therefore, I believe in a graduated income tax on big fortunes, and in another tax which is far more easily collected and far more effective – a graduated inheritance tax on big fortunes, properly safeguarded against evasion, and increasing rapidly in amount with the size of the estate.“)

Es gab historisch einen großangelegten Versuch, den Privatbesitz an Kleinigkeiten vom Privatbesitz an Produktionsmitteln zu trennen. Bei diesem historischen Versuch wurde gleichzeitig probiert, ob sich die Bildung der Preise und die Allokation der Güter statt durch den Marktmechanismus auch durch zentrale Planung bewerkstelligen ließe. Das dritte Element in jenem Wirtschaftssystem war die faktische Unkündbarkeit der Arbeiterinnen, die zu einer im Vergleich mit dem westlichen Kapitalismus geringeren Produktivität, aber auch zu einem geringeren Stresspegel führte.

Der Versuch, die Leute zur Arbeit zu motivieren, indem man sie zu einer Sache der Ehre macht („Heldin der Arbeit“), kann als gescheitert gelten.

Planwirtschaft hingegen hat sich schon vielfach als möglich und effizient erwiesen, insbesondere in Zeiten des Krieges (alle Teilnehmerländer des zweiten Weltkriegs).

Der gemachte Versuch erlaubt es nicht, über die Möglichkeit einer Organisation der Wirtschaft ohne Privatbesitz an Produktionsmitteln zu urteilen, zum einen, weil die Kombination der drei genannten Grundprinzipien nicht notwendig ist, zum anderen, weil das System des real existierenden Sozialismus seinerzeit im Wettbewerb mit dem kapitalistischen System stand, was zu Verzerrungen und Fehlallokationen führte. Dass es in der DDR nur selten Bananen gab, ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Bananen in den sozialistischen Ländern wenig wuchsen, nicht darauf, dass etwa die Planungsbehörde der Ansicht gewesen wäre, Bananen seien überflüssig.


2. Appell an die niedrigen Instinkte (zwei): Gier und Macht

Durch das Geld – und es ist nicht abzusehen, dass wir in absehbarer Zeit ohne Geld auskommen könnten – ergibt sich ein enormer Zug der Abstraktion im Wirtschaftsleben. Man denkt nicht mehr über nützliche oder schöne Dinge nach, sondern über Preise, d.h. Zahlen. Und der Skandal bei den Zahlen, das absolut Unverstehbare, ist, dass es keine größte Zahl gibt. Unendlichkeit ist eine Zumutung. Es kann nie alles geben, sondern immer nur mehr und noch mehr. Daraus resultiert Gier, mindestens aber der Gedanke: ein kleines bisschen mehr wäre doch angenehm.

Der aufgeklärte Gierige weiß aber, dass er das Geld nicht in einer Truhe horten sollte. Besser ist es, einen Teil zu reinvestieren. So ergibt sich aus der Gier ein Drang, die jeweilige Firma zu vergrößern. Die größere Firma wiederum ist profitabler als eine kleinere, da es Skaleneffekte gibt, da die Lieferanten gedrückt werden können etc. So kommt es, dass die Gier ein Hauptantrieb für das Wachstum der gesamten Wirtschaft ist.

Die Abstraktion schreitet über das Stadium der einfachen Geldwirtschaft weiter hinaus mit Giralgeld, Bezahlung per Handy etc. Auch der Privatbesitz wird immer abstrakter, wenn man von der Einzelfirma übergeht zu Aktien und weiter zu Derivaten, oder wenn die Aktien einer Gesellschaft im Besitz einer anderen Aktiengesellschaft sind. Es kommt auch vor, dass Aktiengesellschaften ihre eigenen Aktien zurückkaufen (wieso ist so etwas erlaubt?), womit der Besitz der Firma völlig abstrakt geworden ist.

Mehr Besitz zu haben als andere verleiht aber auch Macht, womit ein weiterer niedriger Instinkt angesprochen ist, Das hat der Pharao, von Joseph gut beraten, mit seinen vollen Kornspeichern erlebt, als die sieben mageren Jahre kamen.


3. Wendung vom Tod zum Leben

Wie wir oben gesehen haben, gibt es überschuss immer. In den Kulturen der Jägerinnen und Sammler genügten 3 bis 4 Stunden Arbeit pro Tag, um die materiellen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Rest der Zeit war Freizeit und wurde für geistige, kulturelle und soziale Bedürfnisse verwendet.

Spätere Kulturen verwendeten ihre überschüsse für den Tod: Pyramiden, mykenische Gräber, Hügelgräber (ein Luxus, den es allerdings nur für wenige gab), und natürlich für Kriege.

Demgegenüber erscheint es positiv und als Fortschritt, dass die überschüsse jetzt zumindest wieder teilweise für das Leben verwendet werden können: manchmal für den Luxus einer Weltraumfahrt für wenige, aber auch für Nagelstudiobesuche aller.


4. Bündnis des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit dem Staat

Dass dieses Bündnis existiert, bedarf kaum der Begründung. Erinnert sei beispielsweise an das BGB, eine zentrale Stütze für das Privateigentum und damit für den Kapitalismus. Katharina Pistor (2019, The Code of Capital, S. 10 der dt. Ausgabe) schreibt: „Das Recht ist ein mächtiges Werkzeug für die Ordnung des Sozialen und hat, wenn es klug eingesetzt wird, das Potenzial, einem großen Spektrum gesellschaftlicher Ziele zu dienen; dennoch wurde es – aus Gründen und mit Folgen, die ich zu erklären versuchen werde – fest in den Dienst des Kapitals gestellt.„ Wie das im Detail bewerkstelligt wird ist das Thema ihres Buches.

Ferner ist daran zu denken, wie die Ausgestaltung des Steuersystems das Wirtschaftswachstum befördern oder hemmen kann (Abschreibungsmodi; Erbschafts- und Vermögenssteuer); an das Schlagwort von der sog. „marktkonformen Demokratie“ (A. Merkel, 2011). Hier kann man schon von Unterwerfung des Staates unter das Wirtschaftssystem sprechen.

Auch der Brauch, abgewählten Politkern hohe Posten „in der Wirtschaft“ zuzuschanzen, ist sicherlich hilfreich bei der Stabilisierung des kapitalistischen Systems gegenüber möglichen Störeinflüssen aus dem politischen System.

Inwieweit China ein Beispiel für einen florierenden Kapitalismus ist, der der Politik unterworfen bleibt, sei dahingestellt

Wichtig ist ferner die Rolle des Staates bei der ursprünglichen Akkumulation, also dem Problem, wie eine vorkapitalistische Wirtschaft die überschüsse erzeugen kann, die man braucht, um ein industrielles System aufzubauen (vgl. Karl Marx, das Kapital, Band 1, Kapitel 24). Auch im präindustriellen Russland hat der Staat (zaristisch und sozialistisch) für die ursprüngliche Akkumulation gesorgt.

Der Staat unterstützt also in vielerlei Hinsicht den Kapitalismus.

Rätselhaft bleibt aber, wieso es der Politik so schwer fällt, auch einmal Entscheidungen zu treffen, die der Wirtschaft nicht genehm sind. Wieso scheint es z.B. kaum möglich, wieder eine Vermögenssteuer einzuführen, obwohl sie doch im Interesse der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung liegt? Oder wenigstens den Eigenhandel (Spekulation auf eigene Rechnung) der Banken und Schattenbanken zu unterbinden?

Die obige Behauptung über eine Vermögenssteuer ist natürlich strittig. Gern wird gegen eine Vermögenssteuer angeführt, dass sie zu einer Vernichtung von Arbeitsplätzen in den mittelständischen, nicht börsennotierten Firmen führe. Dieses Problem sollte aber lösbar sein, denn die Steuer vernichtet kein Kapital – die Maschinen und Fabrikhallen bleiben stehen.

Gelegentlich, wenn der ökonomische Sektor vom Staat gerettet werden muss, wie nach den Krisen von 1929 (was damals durch eine Keynesianische Wirtschaftspolitik in allen Industriestaaten, demokratischen und faschistischen, erfolgte) oder beim Finanzcrash von 2008, bekommt der politische Sektor für eine kurze Zeit mehr Selbstbewusstsein und mehr Gewicht. Nach der Bankenkrise konnte man kurz glauben, das neoliberale Paradigma (Glaube an Privatisierung von Staatsbetrieben, Steuersenkungen für Firmen und Reiche, Deregulierung, Freihandel im Sinne freier Beweglichkeit der Produktionsfaktoren mit Ausnahme der Arbeiterinnen) habe abgewirtschaftet, sogar die Tobin-(Finanztransaktions-)Steuer schien eine kurze Zeit lang erreichbar, aber das verflog schnell wieder.

Liegt diese Schwäche an der Angst der Politiker vor Zuständen wie in den 30er Jahren? Aber daraus könnte man auch die gegenteiligen Folgerungen ziehen: nicht die Wirtschaft ruiniert den Staat durch die Drohung mit Massenarbeitslosigkeit, sondern der Staat zieht den Karren aus dem Dreck! Oder sind es die korrupten Strukturen, die Aufsichtsratsposten? Ist es der alte Minderwertigkeitskomplex von Karl V gegenüber Fugger, die Schüchternheit der Armen (Politiker) gegenüber den Reichen (Managern) oder – moderner – gegenüber dem neuen Typ des Managers als Popstar? Liegt es daran, dass auch das Wissenschaftssystem gekauft ist – was soll man z.B. von einem Lehrstuhl für „Internet-Technologien und -Systeme„ am „Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam“ halten?

Dazu kommt als weiteres Problem der Griff des Wirtschaftssystems nach dem Geld. Durch die Einrichtung von Zentralbanken (deren Personal allerdings auch wieder „aus der Wirtschaft“ kommt) hat sich das politische System ein wenig vom Bankensystem unabhängig gemacht (freilich nicht bei der Kreditaufnahme), aber was passiert, wenn sich die Kryptowährungen durchsetzen? Die Zuckerberg-Währung (Libra) findet nun zwar anscheinend doch nicht statt, aber wer weiß?


5. Nutzung fossiler Energien

Dies ist kein exklusives Merkmal des Kapitalismus, aber der moderne Kapitalismus ist tief mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verwoben. In präfossilen Gesellschaften war ein (von heute aus gesehen, bescheidener) Luxus für eine geringe Anzahl privilegierter Menschen nur möglich auf der Basis von Sklaverei. Die weitgehende Abschaffung der Sklaverei wurde vielleicht nur möglich, weil zuerst Kohle, dann Erdöl als Energieträger entdeckt wurden. Sklaverei ist die Verfügung über Energie, die nicht die meines eigenen Körpers ist. Das gleiche Kommandoverhältnis besteht bei der Verfügung über die fremde Energie der Kohle und des öls. Dadurch wurde ein gewisser Luxus für alle Menschen ermöglicht, außerdem ergibt sich ein Machtgefühl.

Also wurde die Sklavenhaltermentalität beibehalten. Es erscheint mir als mein gutes Recht, nach Mallorca zu fliegen, als mein Recht, die Umwelt mit Mopedlärm oder mit dem SUV zu terrorisieren u.s.w..

Der überschuss, der dem menschlichen Arbeitsvermögen inhärent ist, wird durch die Nutzung von Kohle und Erdöl nochmals sehr gesteigert.

Ein System, das solche Vorteile bietet, wird man nicht abschaffen wollen – man müsste ja die Sklavenhaltermentalität aufgeben.


6. Trickle down

Wirtschaftswachstum wird uns, der Menschheit, nicht nur den Hals brechen (Klimawandel! Mikroplastik! Artensterben! Vernachlässigung der Kleinkinder zugunsten der Beschäftigung mit dem Handy!), sondern es hat auch angenehme Nebenwirkungen. Insbesondere ist es in einer wachsenden Wirtschaft möglich, die Arbeiterinnen von Jahr zu Jahr materiell besser zu stellen, ohne die ungleichmäßige Verteilung des Reichtums anzutasten. Ja, das ist sogar möglich bei einer Verschärfung der Ungleichheit. So etwas bezeichnet man als Trickle-Down-Effekt oder: die Armen bekommen die Brosamen vom Tisch des Reichen, aber jedes Jahr mehr.

Es wird also Loyalität zum Arbeitgeber und zum System gegen ein gewisses Maß an Teilhabe am Reichtum erkauft. Hinzu kommt, dass Loyalität ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis ist.

Soziale Befriedung durch Beteiligung der ArbeiterInnen am Zuwachs hat in den 60er-Jahren gut funktioniert. Inzwischen ist fraglich, ob das Wachstum tatsächlich noch teilweise den unteren Einkommensgruppen zugute kommt, oder ob nicht die Armen immer ärmer werden (vgl. Th. Picketty 2013, das Kapital im 21. Jahrhundert).


7. Leistung als Ideologie

Sehr tief verankert bei den meisten von uns ist das Konzept der Leistung, und dass Leistung honoriert werden müsse, und zwar insbesondere mit Geld. Bei näherem Nachdenken löst sich dieser Gedanke allerdings in Luft auf. Wie soll man denn Leistung messen? Wenn zwei Personen Sand schaufeln, mag es ja noch angehen – die eine schaufelt pro Zeit mehr als der andere –, aber müsste man dabei nicht fairerweise auch die naturgegebenen körperlichen Unterschiede mit einbeziehen? Wie aber soll man die Arbeit des Sandschaufelns mit der Arbeit einer Zahnärztin, eines Generals, einer Fußballerin, eines Börsenspekulanten, einer Soziologin vergleichen? Kann es sein, dass ein Manager tatsächlich 100 mal mehr leistet als eine Arbeiterin?

Das ganze Konstrukt „Leistung“ entpuppt sich so als Ideologie. Sogar, wenn jemand faul ist, und eine andere fleißig – können wir wissen, woher das kommt? Vielleicht sind Faulheit und Fleiß ja kein moralischer Makel und kein moralischer Verdienst, sondern durch die Erziehung oder die Gene bedingt? (s. hierzu auch Graeber 2018, Bullshit Jobs, S. 309)

Meist wird hier noch ein zweiter Fehler begangen. Wenn man das Konzept Leistung anerkennt, und damit auch, dass höhere Leistung mehr Geld wert ist, liegt es anscheinend in der Natur des Menschen, auch den logisch immer falschen Umkehrschluss zu ziehen, dass nämlich die, die mehr Geld verdienen, auch mehr geleistet haben, und dass somit alles gerecht zugegangen ist. Alles andere ist dann „Sozialneid“. Aber wie soll ein Vermögen von, sagen wir großzügig, jenseits 100 Millionen etwas mit der persönlichen Leistung eines einzelnen Menschen zu tun haben?


8. Künstliche Bedürfnisse (s.a. Marcuse 1964, der eindimensionale Mensch)

Es gibt eine große Industrie, die sich damit beschäftigt, den Leuten Bedürfnisse einzureden. Der am Aktienpreis gemessene Wert von Firmen wie Google und Facebook (ja, es ist bekannt, dass die nicht mehr so heißen) basiert ja wohl auf dieser Industrie. Die Schaffung künstlicher Bedürfnisse gehört zu den großen Treibern des Wirtschaftswachstums, ist also Teil des Problems.

Inwiefern wird nun durch die Schaffung von Bedürftigkeit der Kapitalismus stabilisiert? Das liegt daran, dass perfiderweise in uns ein Gefühl des Ungenügens, des Mangels erzeugt wird, welches sich nur durch den Kauf bestimmter Produkte lindern lässt. Wenn ich nicht bestimmte Turnschuhe kaufe, bin ich nichts wert. Und wer bietet mir diese wunderbaren Produkte an? Die kapitalistische Wirtschaft! Es ist ja sattsam bekannt, dass in den sozialistischen Ländern alles nicht so bunt war wie bei uns (Wessi in Siegerpose). Gleichzeitig mit dem Gefühl des Mangels – die Rettung ist nah – bekomme ich auch das Gefühl einer großen Freiheit, nämlich unter vielen Produkten auswählen zu dürfen.

Das bemerkenswerte ist, wie der Kapitalismus eben nicht nur Entfremdung, sondern auch Identifikation produziert: „alles so schön bunt hier“ (Nina Hagen). Ein schönes Beispiel dafür ist der Straßenverkehr: eigentlich pure Gewalt (vgl. D. Hartmann, der in seinem Buch „Leben als Sabotage“, Berlin 1988, S.23 von der „gesellschaftlichen Gewalt im kapitalistischen Gebrauchswert“ spricht). Doch diese Gewalt wird nicht wahrgenommen, da ihr eine Droge gegenübersteht: die Freie Fahrt der Freien Bürgerin. Wie bei jeder Droge ist das Angenehme identisch mit dem Tödlichen.


9. Nicht nur Scheinfreiheiten

Die Bourgeoisie als Klasse konnte nur aufsteigen, indem der Feudalismus abgeschafft wurde. Historisch geht die Einführung des Kapitalismus also parallel mit der Erkämpfung vieler echter Freiheiten (im Unterschied zur oben bereits erwähnten Scheinfreiheit der Wahlmöglichkeit zwischen Lidl und Aldi, zwischen 16 Sorten Klopapier), wie der Pressefreiheit und der Gewerbefreiheit, und anderen grundlegenden Errungenschaften, wie der Gleichheit aller Bürgerinnen vor dem Gesetz. Deshalb gibt es bis heute die Kombination von liberaler Politik und liberalistischer Wirtschaftsauffassung. So naheliegend es scheint, die gewonnenen Freiheiten dem Kapitalismus gutzuschreiben, so falsch ist es aber, wie hervorragend funktionierende kapitalistische Wirtschaften im Nazideutschland oder in China zeigen.



Neun gute Gründe für die Beibehaltung des Kapitalismus? Will man den Kapitalismus abschaffen, bevor er uns abschafft, muss man sich damit auseinandersetzen, wo er erfolgreich ist, was er leistet und wie er uns dazu bringt, an ihn zu glauben.