Philosophie des Flipperns

Ich spiele nicht besonders gut Flipper. Aber seit ich das erste mal an einem Flipper stand, scheint mir dieses Spiel eine Institution besonderer Art, von geradezu mythischer Dimension, zu sein. Immer wollte ich darüber schreiben; ich habe auch mehrfach Ansätze dazu gemacht. Jetzt, wo das Flippern mehr und mehr von den Videospielen verdrängt wird (die durch die Direktheit ihrer Aussage in krassem Gegensatz zur Vielschichtigkeit des Flipperns stehen), scheint es an der Zeit zu sein, meine Gedanken zu diesem Thema zu sammeln. In einem ersten Versuch schrieb ich eine Geschichte, in der ich der Idee des Flipperautomaten als Spiegelbild unserer Gesellschaft nachzugehen versuchte. In dieser Geschichte gräbt ein Archäologe der Zukunft einen Flipper aus und erkennt aus diesem einen Fund sämtliche Grundzüge unserer Gesellschaft mitsamt ihrer Zerstörung entweder durch einen Nuklearkrieg oder durch eine ökologische Katastrophe. Er geht in seiner Analyse von drei Merkmalen des Flippers aus:
Erstens spielt man beim Flippern nicht mit anderen Menschen, sondern primär gegen die Maschine; allenfalls kann man gegen andere Leute spielen, aber selbst dann ist die Beziehung zu ihnen durch die Maschine vermittelt. Tatsächlich ist ein Hauptmotiv für den Flipperspieler derr Wunsch, einmal die Maschine, die überall sonst über den Menschen siegt, zu besiegen. Aber die Maschine kann nicht verlieren; der Flipper ist ihr subtilster Sieg. Nicht nur beherrscht sie das Arbeitsleben; in Gestalt des Spielautomaten dringt sie auch noch in den Bereich der Freizeit ein und fordert ihren Tribut an Markstücken.
Zweitens sind die Einflussmöglichekeiten des Spielers sehr beschränkt. Ist die Kugel einmal abgeschossen, kann er nur noch die beiden Flipperknöpfe bedienen; die meisten Bewegungen der Kugel werden von der Maschine allein verursacht. Von ihr wird die Kugel hin und hergeworfen, in einer Bahn, die durch die Komplexität des Systems, in dem geringe Unerschiede in den Ausgangsbedingungen zu großen Differenzen im Ergebnis führen, unvorhersehbar wird, ebenso wie der langfristige Erfolg der beschränkten Eingriffe, die man vornehmen kann, schwer kalkulierbar ist.
Das dritte Merkmal ist die Belohnung durch ein Abstraktum: eine Zahl. Es gibt beim Flippern nicht Gewinnen oder Verlieren (und schon gar keinen materiellen Gewinn, weil der Flipper ja kein Glücksspiel sein will), sondern die Belohnung besteht in einer größeren oder kleineren Zahl, theoretisch ohne Grenze nach oben (es kommt vor, dass der Flipper „gekippt“ wird, das heißt, dass alle Stellen des Zählwerks wieder auf Null gestellt werden, weil die höchstmögliche Anzeige – 999 999 – überschritten wurde).
In der Tat leben wir in einem Zeitalter der allumfassenden Quantifizierung, die vor allem durch zwei Mittel durchgeführt wird: das Geld und die Zeitmessung. Da das Verhältnis zur Umwelt durch das Verhältnis zur Arbeit bestimmt wird und das Verhältnis zur Arbeit durch das zur Zeit, lieferte die Erkenntnis, dass in unserer Kultur alles, und also auch die Zeit, quantifiziert wird, dem Archäologen jener Geschichte den Hauptanhaltspunkt für seine Rekonstruktion unserer Gesellschaftsordnung. Denn was quantifiziert wird, wird knapp, also müssen alle Bewegungen beschleunigt werden, um Zeit zu sparen. Bezüglich der Arbeit bedeutet das ein Vorherrschen der industriellen Produktionsweise. So ergab sich das Bild einer Gesellschaft, in der dem Einzelnen der Zugang zu Natur und Mitmenschen durch Maschinen beziehungsweise große Organisationen, die ja nichts anderes als Maschinen aus menschlichen Teilen sind, versperrt wird, und die entweder durch eine ökologische Katastrophe oder durch einen Antagonismus zwischen großen Organisationen untergeht.
Die Geschichte dieses Archäologen war meine erste Kugel. Nachdem sie nun verschwunden ist, rattert das Zählwerk noch, während es die letzten Punkte registriert.
Vor dieses direkte, aber nur unterschwellig wirkende Bild der Welt schiebt sich die leicht vulgäre Ikonographie der Bilder, mit denen Spielfläche und Anzeigetafel des Flippers bemalt sind. Indem die jeweils aktuellsten Themen der Unterhaltungsindustrie aufgegriffen werden (es gibt sogar einen Flipper, der das Pac Man-Motiv verwendet), wird hier, entsprechend unserer Sehnsucht nach dem Schlaraffenland, eine Kontrastwelt von Muße und Reichtum gezeigt. Das Zählwerk bildet die Verbindung zwischen den beiden Welten: Der Mechanismus gewährt dem Spieler Millionenreichtum. Die oft gewürdigte Erotik dieser Bilder erhöht die Attraktivität des Flippers. Dann erscheint die zweite Kugel.
Der Flipper leistet im Unterschied zu anderen Maschinen keinerlei nützliche Tätigkeit. (Deshalb musste ihn jener Archäologe auch als Kultgegenstand interpretieren.) Die große Masse der technischen Vorrichtungen, die in direkter Beziehung zur Arbeit stehen, lässt sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe ist produktionsorientiert und dynamisch. Hierher gehören Werkzeuge und Prozesse zur Umformung von Materie und Energie wie Faustkeil und Feuer. Sodann Erfindungen zur Erleichterung des Transports: der Weg (den bereits die Tiere erfunden haben), Schiff und Kanal, Rad und Wagen. Schließlich noch Vorrichtungen zur Umformung und zum Tranport von Information wie Druck, Telegraph, Computer. Veränderung der Form, Überwindung des Raumes: das allgemeine Kennzeichen dieser Gruppe ist es, das Grenzen durchbrochen werden.
Im Gegensatz dazu dienen die Artefakte der zweiten Gruppe dazu, Grenzen aufzurichten, Inneres von Äußerem zu scheiden. Sie sind statisch und dienen der Speicherung: Körbe, Töpfe, Kleider, Häuser und auch soziale Organisationen wie zum Beispiel Staaten.
Der Flipper ist aber nicht die einzige Vorrichtung, die sich in keine der zwei Gruppen einordnen lässt. Zwei weitere Beispiele sind die Uhr und das System Schlüssel/Schloss. Als ich diesem Gedankengang folgte, habe ich die drei Vorrichtungen versuchsweiese unter die Kategorie des Rätsels gestellt. Das Charakteristikum des Rätsels ist es, dass es nur eine einzige zutrefende Antwort erlaubt. Bei Schlüssel/Schloss ist die Parallele deutlich: Das Schloss als Rätsel, der Schlüssel als die einzige passende Lösung. Die interessante Stellung des Schlosses in Bezug auf die vorhergehende Dichotomie von Grenzen aufrecht erhalten und Grenzen durchbrechen sei nur am Rande vermerkt.
Etwas anders verhält es sich mit der Uhr. Sie dient nur dem einen Zweck, die Antwort auf die Frage "Wie viel Uhr ist es?" zu erhalten. Wie man sieht, ist diese Frage selbst erst durch die Uhr erzeugt worden. Das Rätsel, das die Uhr beantwortet, ist von ihr selbst gestellt. Allerdings ist die Antwort jedesmal eine andere. Die gegebene Information ist jedoch stets partikulär, nie allgemein. Dies rechtfertigt es, auch die Uhr als Rätsel zu klassifizieren.
Auf welches Rätsel antwortet nun der Flipper? Der Flipper arbeitet auf zwei Stufen, die auch in der äußeren Form des Geräts reflektiert sind. Auf der ersten Stufe bewirkt er zusammen mit dem Spieler, dass eine Metallkugel in einer komplizierten, jedesmal anderen Bahn über die Spielfläche rollt. Diese Bahn ist wohl durch mechanische Gesetze vorherbestimmt, aber praktisch lässt sie sich nicht vorhersehen. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob sie in einem gewissen Maß zufällig wäre oder als ob die Kugel eine gewisse Freiheit hätte, ihre Richtung zu wählen. Von Außen lässt sich nicht entscheiden, welches der Fall ist. Auf der zweiten Stufe übersetzt der Flipper die Bahn der Kugel in eine eindeutig bestimmte Zahl auf dem Zählwerk, aus der sich die Bahn allerdings nicht rekonstruieren lässt. Hier gibt es nun eine Parallele zur Institution des Orakels. Im Orakel werden ja zufällige Erscheinunge wie der Vogelflug oder Formen im Kaffeesatz als eben in Wirklichkeit nicht zufällig auf das persönliche Schicksal bezogen. Das scheinbar zufällige Ereignis hängt von der gestellten Frage ab. Zum anderen wird es auf (im Idealfall) eindeutige Weise in eine Antwort übersetzt. Entsprechend bestimmt die Person des Spielers den Lauf der Kugel, wie dieser die Zahl auf der Anzeige. Es gibt keinen Zufall. Alles hängt nämlich mit Allem zusammen; So wie du bist, so ist dein Spiel.
Damit ist die Kugel verschwunden. Es bleibt nur noch eine weitere Kugel zu spielen.
Die Antwort (die Zahl auf dem Zählwerk) ist jedoch so unbrauchbar wie alle Orakelantworten. Tatsächlich besteht aber bereits auf der ersten Stufe eine Korrespondenz zwischen der Bahn der Kugel und dem Schicksal des Spielers. Jeder Flipperspieler identifiziert sich mit der Kugel, wie sie zwischen den Hindernissen auf der Spielfläche (der Welt) hin und her geworfen wird. Nun kann er ja ihren Lauf mit zwei Knöpfen beeinflussen. Wenn also der Automat die Welt ist, ist der Spieler Gott. Allerdings ist sein Einfluss auf die Kugel ziemlich gering. Gott hat zwar die Welt erschaffen, und der Mensch hat die Maschine konstruiert, aber damit hat er seine Macht selbst beschränkt. Die Gesetzmäßigkeiten der Welt und der Lauf des Schicksals unterstehen nun nicht mehr seine Macht. Diese Unabhängigkeit der Welt von Gott ermöglicht jedoch eine andere Beziehung zwischen ihnen. Wie der Flipper den Spieler durch seine Bemalung verführt (oft wurde Flippern mit Sex verglichen), so muss auch Gott die Welt lieben, die ihm unabhängig entgegentritt. Eine Situation, deren überraschende und auch gefährliche Möglichkeiten in vielen Religionen behandelt werden. Hierbei ist es interessant, dass der Spieler, da ja die Spielfläche zu ihm hin geneigt ist, die Kugel stets von sich weg flippen muss, will er sie möglichst lange „am Leben“ erhalten.
TILT! Der Flipper verstummt, die dritte Kugel rollt herab und verschwindet.


Erstmals veröffentlicht (mit ein paar Verhunzungen, die hier rückgängig gemacht sind) in:
Transatlantik Oktober 10 / 1983, S. 52 f.