Im ersten Band des Kapitals schreibt Marx: "Allerdings muss die menschliche
Arbeitskraft selbst mehr oder minder entwickelt sein, um in dieser oder jener Form verausgabt zu werden. Der Wert
der Arbeit aber stellt menschliche Arbeit schlechthin dar, Verausgabung menschlicher Arbeit überhaupt. Wie
nun in der bürgerlichen Gesellschaft ein General oder Bankier eine große, der Mensch schlechthin dagegen
eine sehr schäbige Rolle spielt, so steht es auch hier mit der menschlichen Arbeit. Sie ist Verausgabung einfacher
Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen
Organismus besitzt. Die einfache Durchschnittsarbeit wechselt
zwar in verschiedenen Ländern und Kulturepochen ihren Charakter, ist aber in einer vorhandenen Gesellschaft
gegeben. Komplizierte Arbeit gilt nun als potenzierte
oder vielmehr multiplizierte einfache
Arbeit, so dass ein kleines Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arrbeit.
Dass diese Reduktion beständig vorgeht, zeigt die Erfahrung. Eine Ware mag das Produkt der kompliziertesten
Arbeit sein, ihr Wert setzt sie
dem Produkt einfacher Arbeit gleich und stellt daher selbst nur ein bestimmtes Quantum einfacher Abeit dar. Die
verschiedenen Proportionen, worin verschiedene Arbeitsarten auf einfache Arbeit als ihre Maßeinheit reduziert
sind, werden durch einen Gesellschaftlichen Prozess hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt und scheinen
ihnen dadurch durch das Herkommen gegeben. Der Vereinfachung halber gilt uns im Folgenden jede Art Arbeitskraft
für einfache Arbeitskraft, wodurch nur die Mühe der Reduktion erspart wird" (MEW 23, S. 59)
So stellt sich das berühmte Reduktionsproblem; gleichzeitig wird die Absicht verkündet, es zu ignorieren.
Es ist gar nicht so einfach, zu sagen, was Marx hier genau gemeint hat. Auch ohne hier eine eindeutige Exegese
zu versuchen, ist doch klar, daß es hier zwei relevante gesellschaftliche Erscheinungen gibt:
Es gibt Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Arten von Arbeit, die tatsächlich
hiner dem Rücken der Arbeiter festgelegt werden und durch Herkommen gegeben scheinen. Dass es auch Lohnunterschiede
bei gleicher Arbeit, aber verschiedenen Sorten von ArbeiterInnen gibt, ist ein anderes Problem.
Es gibt auch Unterschiede in den Reproduktionskosten verschiedener Arbeiter. Ein Zahnartzt z.B. ist in der Herstellung
teurer als ein Hilfsarbeiter, in ihn geht nämlich mehr Lehrarbeit ein. Er hat also einen höheren Wert.
(Nebenbei: diese Kosten bezahlt er nur zum geringsten Teil selbst, das meiste zahlt der Staat.) Außerdem
hat er eine kürzere Lebensarbeitszeit, in der er das Geld verdienen kann, um die Zahnärzteschaft zu reproduzieren.
Die Wertunterschiede zwischen unterschiedlich qualifizierten Arbeitern lassen sich im Prinzp zahlenmäßig
genau angeben. Der Wert der qualifizierten Arbeitskraft bestimmt sich folgendermaßen: bei ihrer Produktion
wird sowohl einfache als auch komplizierte Arbeitskraft verausgabt. Diese komplizierte Arbeit wiederum wird von
gleicherart produzierten Arbeitskräften geleistet. Es kann also, durch die Produktionsperioden in der Zeit
rückwärts gehend, die einfache Arbeit aufsummiert werden, wobei das Residuum von komplizierter Arbeit
gegen Null geht.
Die tatsächlich bestehenden Lohnunterschiede sind jedoch wesentlich größer als die derart bestimmten
Wertunterschiede zwischen den Arbeitskräften. Diese Diskrepanz wird üblicherweise wie folgt erklärt:
Es wird erstens behauptet, der Facharbeiter leiste mehr als der Hilfsarbeiter, der Akademiker mehr als der Prolet,
ihre Arbeit sei produktiver, schaffe mehr Wert. Zweitens bekomme er deshalb mehr Lohn. In diesem Sinne (mindestens
des ersten Punktes) wird meist das Reduktionsproblem verstanden. Z.B. Hilferding: "Die Arbeit der Ausbildung
überträgt also nicht nur Wert
(der im höheren Lohn in Erscheinung tritt), sondern auch ihre eigene wertschaffende
Kraft." (R. Hilferding, Böhm-Bawerks Marx-Kritik, in: M. Adler
& R. Hilferding, Marx-Studien Bd. 1, Wien 1904, zitiert nach: Friedrich Eberle (Hrsg.), Aspekte der marxschen
Theorie 1, edition suhrkamp 632, Frankfurt 1973, auf S. 149). Ich nenne diesen Erklärungsversuch die Leistungsideologie.
Zunächst möchte ich ihren ersten Punkt anhand einiger Beispiele überprüfen.
Betrachten wir zunächst zwie Arbeiter, die die gleiche Tätigkeit verrichten. Dem einen gehe die Arbeit
leicht von der Hand, der andere sei ungeschickt. Ihre Anstrengung sei gleich, folglich auch ihre Reproduktionskosten.
Der erste wird also in gleichen Zeiträumen mehr stofflichen Reichtum erzeugen. Da sich der Wert der Produkte
nach dem Durchschnitt der in einer Gesellschft für ihre Herstellung aufgewandten Arbeitszeit bemisst und der
erste Arbeiter überdurchschnittlich schnell arbeitet, schafft er also in der Tat in der gleichen Zeit mehr
Wert wie der ungeschickte Arbeiter. Solche Produktivitätsunterschiede sind natürlich in ihrer Größe
sehr beschränkt. Ein analoger Fall wäre, wenn ein Arbeiter mit modernen Maschinen, ein anderer mit veralteten
das gleiche Produkt herstellt. Hier sorgt die Konkurenz dafür, dass die Produktivitätsunterschiede nicht
allzu groß werden.
Ein zweites Beispiel: Ein Vorarbeiter erreicht durch emsige Organisationsarbeit, dass 20 Arbeiter so viel leisten
wie sonst 40. Wird man nun sagen, er sei so produktiv wie 19 einfache Arbeiter? Wohl kaum. Denn zum einen sind
Ergebnisse, die durch Zusammenarbeit entstehen, den einzelnen Mitwirkenden nicht zurechenbar. Ohne die Arbeiter
würde der Organisator nichts bewirken. Zum anderen wird sich die so besser organisierte Produktionsweise in
der gesamten Gesellschaft durchsetzen, wodurch die durchschnittliche gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in
diesem Sektor um 19/40 fällt. Es entsteht nicht eine komplizierte Arbeit mit 19facher Produktivität,
sondern der Wert des Produktes sinkt. Genau darin besteht ja der Vorteil industrieller Produktionsweise gegenüber
dem Handwerk, dass durch eine gewachsene Bevölkerung die Nachfrage steigt und deshalb mehr Arbeiter bei der
Produktion einer bestimmten Ware eingesetzt werden können, wodurch wiederum eine feinere Arbeitsteilung möglich
wird und die Produktivität steigt. Dafür ist natürlich Organisationsarbeit erforderlich.
Eine weitere Gattung komplizierter, gut bezahlter Arbeit ist Forschung und Entwicklung. Hier wird aber kein Wert
produziert, sondern es werden verbesserte Möglichkeiten künftiger Wertproduktion geschaffen. Diese Arbeit
ist natürlich durchaus nützlich, aber nicht produktiv im engeren Sinn. Es geht ja z.B. nicht die Arbeit,
die die Erfinderin des Rades aufwenden musste, proportional in den Wert aller mit Hilfe von Rädern hergestellten
Waren ein; der Bruchteil wäre auch gar nicht bestimmbar. Erfinderarbeit muss deshalb aus dem jeweiligen Mehrwert,
den eine Wirtschaft abwirft, bezahlt werden. Auch hier kann also die höhere Bezahlung nicht durch höhere
Produktivität erklärt werden.
Schließlich ergib sich als Konsequenz dieser Leistungsideologie der "Kapitalistenlohn", der wegen
der besonders wichtigen und schwierigen Entrepreneursarbeit natürlich besonders hoch sein muss.
Allgemein gesprochen ist der Punkt hier der, dass sich Produktivität an der Menge des erzeugten stofflichen
Reichtums misst. Stofflicher Reichtum ist aber nicht gleich Wert. Produktivität lässt sich immer nur
für verschiedene Produktionsweisen des gleichen Produktes vergleichen. Die Arbeitszeit ist Maß des Wertes
und nicht gemessenes.
Punkt eins der Leistungsideologie ist also nur höchst beschränkt gültig. Punkt zwei enthält
vom Standpunkt der Werttheorie einen groben logischen Fehler: Wer mehr Wert schafft, ist deshalb nicht selbst mehr
wert. Es ist der Gebrauchswert des Arbeiters, Wert zu schaffen. Unterschiede im Gebrauchswert, auch wenn sie sich
hier einmal auf einer gemeinsamen Skala vergleichen lassen, bedingen keine Unterschiede im Tauschwert. Richtig
ist natürlich, dass der schnelle Arbeiter mehr Mehrwert schafft und dass daher die Möglichkeit besteht,
ihn am Mehrwert zu beteiligen.
Der umgekehrte Schluss, dass der qualifizierte Arbeiter, weil er wertvoller ist, auch mehr Wert schafft, ist natürlich
genauso wenig zwingend. Es gibt allerdings ein Argument dafür: nehmen wir an, der qualifizierter und der einfache
Arbeiter schaffen in der gleichen Zeit gleich viel Wert. Da der qualifizierte Arbeiter wegen seiner höheren
Reproduktionskosten einen höheren Lohn bezieht, ist seine notwendige Arbeitszeit länger, bei gleicher
Arbeitszeit also die Mehrarbeitszeit kürzer. Für ihn wäre folglich die Mehrwertrate geringer. Um
gleiche Mehrwertraten zu haben, muss er also in gleichen Zeiten mehr Wert produzieren. Für Individuen muss
dieses Argument nicht unbedingt akzeptiert werden. In einer Industrie ist ja das Verhältnis, in dem unterschiedliche
Sorten von Arbeitern gebraucht werden, relativ fest. Substitution ist nur sehr beschränkt möglich. Die
Mehrwertrate kann dann als Durchschnitt über alle verwendeten Arbeiter gebildet werden. Aber dann gäbe
es immer noch Differenzen zwischen verschiedenen Industrien, die qualifizierte und unqualifizierte Arbeiter in
unterschiedlichen Verhältnissen beschäftigen.