Medienkonzept für ein Oberstufengymnasium

Eine Anregung


Inhalt:

  1. Schule
    • "veraltete Hard- und Software"
    • Programmieren für alle?
    • Geräte- und Programmbedienung
    • Sachen wissen
    • Lesen und schreiben
    • Text oder Bild (statisch oder zappelnd)?
    • Individualisierung durch Lernsoftware
    • Digitale Präsentationstechnik
    • Weltfremdheit
  2. Schülerinnen
    • Suchtproblematik
    • Strafrechtliche Aspekte
    • Spicken
    • „Medienkompetenz“
    • Die Mitschrift
    • Das Langzeitgedächtnis
    • Geistige Arbeit
  3. Lehrerinnen
    • Ausstattung
    • Analog ist oft besser als digital
  4. Fußnoten

1. Schule

Allgemein wird gesagt, mit der „Digitalisierung“ müsse sich die Schule verändern. Ist das so?


„veraltete Hard- und Software“

Es ist ein Irrtum – und das muss endlich einmal festgehalten werden –, dass "veraltete Hard- und Software" ein Problem wäre. Alles, was im Zusammenhang mit Computern lernenswert ist, hängt nicht von der Neuheit der verwendeten Werkzeuge ab. 1


Programmieren für alle?

Ein Land benötigt eine gewisse Menge an Programmiererinnen*. Deshalb ist es in Ordnung, dass in den Schulen Informatik als Fach angeboten wird. Es ist aber durchaus nicht nötig, dass alle Schülerinnen lernen, zu programmieren, und es würde auch nicht allen Schülerinnen Freude machen. Der Bedarf an Programmiererinnen ist auch durch diejenigen zu decken, die sich von selbst für diese Tätigkeit interessieren.

Und die sich digitalisierende Welt kann man auch ohne Programmierkenntnisse verstehen. Was ein Algorithmus ist, hat jeder verstanden, der schriftlich addieren kann2.


Geräte-und Programmbedienung

Es erscheint nicht erforderlich (nicht pädagogisch wertvoll), dass die Schule dafür sorge, dass Schülerinnen Handies oder Tablets bedienen können. Das lernen die auch so. (Von Könnerschaft kann freilich keine Rede sein – ich kenne kaum eine Jugendliche, die es schafft, Bilder der Handykamera auf einen anderen Computer zu transferieren, außer die downgesampleten WhatsApp-Bilder)

Es gab schon immer Bereiche des Lebens, die nicht in Schulen vermittelt wurden: Fahrrad fahren, Auto fahren, 10-Finger-tippen, Steuererklärung ausfüllen, Kinder aufziehen, Umgang mit Alkohol. Das sollte auch so bleiben; vielleicht nicht für alle genannten Beispiele, aber doch für viele.

An Bedienerkenntnissen nützlich wären einige wenige Kleinigkeiten, die sich aber jeweils in einer Viertelstunde erledigen ließen. Mir fallen ein:

Zweck und Anwendung von Tabulatoren in der Textverarbeitung (gab es auch schon auf mechanischen Schreibmaschinen);

Eingabe von Formeln in Tabellenkalkulationsprogramme (nützlich in allen Wissenschaften, die mit Zahlen arbeiten)


Sachen wissen

Angeblich muss man heututage nichts mehr wissen, weil man alles nachschauen könne. Ja, wenn ich weiß, was ich wissen möchte, dann kann ich tatsächlich im Internet schnell Sachen finden, wo ich früher in eine Bibliothek gehen musste. Wenn man etwas tiefer gehen möchte, wird meist allerdings doch eine Bibliothek benötigt3. Ohne einen mittelgroßen Wissensbestand werde ich aber nie wissen, was ich noch gerne wüsste. Ferner: schöpferisches Denken ist nur möglich, wenn ich in meinem Geiste Gedanken frei kombiniere. Diese Gedanken speisen sich aber aus Sachen, die ich weiß.


Lesen und schreiben

Die Sprache (Ketten einer begrenzten Anzahl von Phonemen, die die Welt nicht per Ähnlichkeit – also analog –, sondern per Konvention abbilden) ist das älteste digitale Medium, die Schrift das zweitälteste. Medienkompetenz ist deshalb Lesekompetenz und wenig anderes. Und genau bei der Lesekompetenz der Schülerinnen hapert es, gerade hier müssen die intensivsten Bemühungen der Schule stattfinden.

Völlig ungeklärt ist, wie sich das Lesen und Schreiben verändert, wenn es an Bildschirmen statt auf Papier erfolgt. An mir selbst bemerke ich, dass ich am Bildschirm erheblich schlampiger lese als auf Papier und mir vieles entgeht. Es ist auch anzunehmen, dass sich die Syntax durch das Schreiben am Bildschirm, durch Copy-and-Paste-Techniken und dadurch, dass das Verschieben von Satzteilen so einfach ist, verändert.

Dennoch ist zu überlegen, ob es zweckmäßig wäre, für die Textproduktion Laptops mit guten Tastaturen zur Verfügung zu stellen, da dies heute die normale Art des Schreibens für die Art von Texten, die uns als Lehrerinnen am Herzen liegt (im Unterschied zu Messengerdienstnachrichten), ist. Andererseits: In welchen Fächern kommt es vor, dass im Unterricht außerhalb von Klausuren längere Texte verfasst werden?


Text oder Bild (statisch oder zappelnd)?

Die Schule sollte ein Bollwerk des Textes bleiben! Ein Text sagt mehr als 1000 Bilder. Bilder können natürlich oft unterstützend Informationen wiedergeben. Deshalb enthalten Schulbücher gelegentlich auch Abbildungen. Sie müssen aber auch nicht immer bunt sein. Manchmal sind sogar zappelnde Bilder gut; auch früher schon hat man Filme in der Schule gezeigt.


Individualisierung durch Lernsoftware

Wer erinnert sich noch an den „programmierten Unterricht“? Das waren Bücher, wo man unten auf der Seite immer kleine Fragen / Aufgaben bearbeiten musste. Auf der nächsten Seite kam dann die Lösung, und je nachdem, was man geantwortet hatte, wurde man zu verschiedenen anderen Seiten mit neuen Informationen und Aufgaben weitergeschickt. Wieso ist dieses Format ausgestorben? War es vielleicht doch nicht so toll? Ähnlich war es mit den Sprachlaboren – die sind auch ausgestorben.

Aber natürlich ist klar, dass hier technisch vieles möglich ist, insbesondere beim Bilden von Routinen (automatisch generierte Übungsaufgaben in Mathe; Vokabellernen; Grammatiktraining. Der Lernerfolg durch dergleichen Software ist als einziger Nutzen der Digitalisierung des Unterrichts auch empirisch nachgewiesen5.

Misstrauen ist aber bei jedem schulfremden Angebot angezeigt, was die Inhalte anbelangt und zum anderen hinsichtlich der Datensammelei der gegebenenfalls hinter dem Angebot stehenden Konzerne. Dieser letzte Punkt ist besonders kritisch. Nach der Privatisierung der privaten Kommunikation durch Facebook u.a. und dem damit einhergehenden vollständigen Verlust der Privatsphäre zugunsten von Geschäftsinteressen sieht die Digitalwirtschaft die nächsten großen Geschäftsfelder im Bereich Gesundheit und Bildung6. Wir sollten als Schule unbedingt sicherstellen, dass jede von uns verwendete Software keine Daten, die kommerziell verwendet werden sollen, zurück an die Urheber der Programme sendet. Ebenso mit Misstrauen zu betrachten ist das Speichern in der „Cloud“. Hier ist man zumeist abhängig von wenigen Konzernen (Amazon, Microsoft – Office 365! –, SAP), deren Datamining-Strategien im Dunkeln liegen7.

Erklärvideos: gut ist, dass man sie anhalten und zurückspulen kann – was allerdings auch bei Lehrerinnen möglich ist (sog. Nachfrage der Schülerinnen). Ansonsten: der reinste Frontalunterricht, was allerdings nicht per se schlecht ist.

Zu Berücksichtigen ist auch die Diskussion in Fachkreisen (s. z.B. Prof. J. Krautz, Bergische Universität Wuppertal), die die Verbindungen der Ideen vom selbstgesteuerten Lernen etc. mit der neoliberalistischen Ideologie herausarbeitet.


Digitale Präsentationstechnik

Dieser Punkt könnte genauso gut bei 2. (Schüler) oder 3. (Lehrer) stehen. Er ist hier unter 1. (Schule) wegen gewisser Handreichungen zum "pädagogisch-technischen Einsatzkonzept". Ein mir bekanntes Schulamt schreibt in seiner dazu gehörigen "Zielsetzung und Maßnahmenplanung – Beispielsammlung" zu den Zielen, die eine Schule haben könnte:

„In allen Unterrichtsfächern wird digitale Präsentationstechnik eingesetzt.“

„Jeder Kollege führt eine Unterrichtseinheit mit Einbindung digitaler Präsentationstechnik durch“.

„ Alle Schülerinnen und Schüler halten bis zum 3. Schuljahr wenigsten einmal ein Referat mit Einsatz von Präsentationssoftware.“

Unterricht wird nicht besser, wenn Powerpoint benutzt wird (oder ein vergleichbares Opensource-Programm), und schon gar nicht zwangsweise ("jeder Kollege ... führt durch"). Graphische Elemente von der Seite einschweben lassen kann ich auch mit der Tafel und Kreide. Dann kann ich auch flexibel auf Schülerfragen und Anmerkungen eingehen - das ist mit Powerpoint nicht möglich. Mit Powerpoint bin ich außerdem bei der Vorbereitung länger beschäftigt, als wenn ich ein Tafelbild plane, und zwar mit der Form, nicht mit dem Inhalt. Wenn ich im traditionellen, tafelgestützten Unterricht ein Bild einbinden will, kann ich auf das Schulbuch verweisen.

Ich könnte aber auch alles mit dem Stift auf der berührungsempfindlichen Oberfläche eines Tablets schreiben und mit einer weiteren Hilfssoftware (z.B. AppleTV) an den Beamer senden. Dann bin ich so flexibel wie mit Tafel und Kreide, kann Bilder einbinden ohne Schulbuch, verbrauche aber erheblich mehr Ressourcen. Und wo sind meine Daten gespeichert? Wem gehört die Cloud? Wer verdient damit Geld, Amazon oder Microsoft? Wer wertet meine Daten aus?

Auch Schülerreferate (heute bevorzugt Präsentationen genannt) werden nicht besser, wenn die Arbeit weg vom Inhalt hin zur Form (Powerpoint) gelenkt wird. Die üblichen Plakate sind allerdings vielleicht auch entbehrlich.

Schülerinnen, die später Präsentationssoftware beruflich verwenden wollen, weil sie z.B. Unternehmensberaterinnen werden wollen, können sich die nötigen Kenntnisse selbst in einer Viertelstunde aneigenen; Aufgabe der Schule, die ja keine Berufsschule für Unternehmensberatungswesen ist, ist das nicht.


Weltfremdheit

Insgesamt darf und soll! die Schule eine Oase der Weltfremdheit 8 sein, zu der die Verwertungslogik des Kapitals nur begrenzt Zutritt hat. Sie darf auch langsam sein.

Schülerinnen


Suchtproblematik

Wünschenswert wäre es, etwas gegen Handysucht und Computerspielsucht zu unternehmen, aber ist es auch möglich?

Sinnvoll wäre es, wenn die Schülerinnen ihr Handy zum Klogang auf dem Lehrertisch liegen ließen. Auch über Störsender mit geringer Reichweite auf den Schülerklos wäre nachzudenken. Eine Uhr in jedem Klassenzimmer würde die Anzahl der Ausreden für Aufs-Handy-Schauen reduzieren.


Strafrechtliche Aspekte

Den Schülerinnen sollte klar gemacht werden, dass man mit Handies und mit Internetnutzung zur Straftäterin werden kann:

Cybermobbing; durch Handybenutzung verursachte Auto- und andere Unfälle; Urheberrechtsprobleme; Persönlichkeitsschutz (Recht am eigenen Bild); Plagiate.


Spicken

Schwieriges Thema!


„Medienkompetenz“

hat zwei Teile: der erste sollte besser Drogenkompetenz heißen und wurde so ähnlich bereits beim Aufkommen der Romane diskutiert.

Der andere Teil hat mit der Einschätzung der Zuverlässigkeit von Informationsquellen zu tun. Hier wäre viel zu tun (Filterblase, Verschwörungstheorien, welche Suchmaschine nutze ich, sind die ersten 3 Ergebnisse die besten?, Nutzung von Wikipedia incl. Fehlerbehebung, Online-Wörterbücher9). Über die Art, wie diese Themen im Unterricht verankert werden können, gilt es nachdenken.

Es gibt auch immer noch Bücher als Informationsquelle. Jedoch ist den Schülerinnen leider folgendes nicht bewusst: Ein Schulbuch ist für sie in der Regel besser verdaulich als ein Wikipedia-Artikel.

Die Förderung der Lesekompetenz, insbesondere für Bücher, muss zentraler Bestandteil jedes Medienkonzepts sein. Allerdings scheitert die Schule hier schon seit Jahrhunderten.

Ebenso scheint es mir eine gute Idee zu sein, auch den Umgang mit Landkarten zu schulen. Wer nur winzige Kartenausschnitte auf dem Handydisplay zu sehen gewohnt ist oder sich nur nach Wegbeschreibungen bewegt, wird nie eine Vorstellung von der Gestalt der Welt entwickeln und folglich auch z.B. geopolitische Fragestellungen nicht verstehen können.


Die Mitschrift

Für viele Menschen scheint es vorteilhafter zu sein, Dinge selbst zu schreiben, um sie im Gedächtnis zu verankern (wenige merken sich alles bereits durch reines Zuhören). Abphotographieren eines Tafelbildes hat jedenfalls nicht den gleichen Effekt wie Abschreiben. Wäre ein Mitschreiben auf Tablets ebensogut wie auf Papier? Sind handschriftliches, maschinenschriftliches oder 2-Daumen-schriftliches Mitschreiben gleich gut?

Eine gute Mitschrift zu verfassen ist schwierig, aber eine wichtige Fähigkeit, die geübt werden sollte.


Das Langzeitgedächtnis

geht unseren Schülerinnen zunehmend verloren.


Geistige Arbeit

Unsere Schülerinnen sollten lernen, dass geistige Arbeit wertvoll ist und dass es sich dabei nicht um Copy and Paste handelt. Bei Projektwochen kann man erleben, dass Schülerinnengruppen nach 3 Tagen ein Plakat abliefern, das aus dem – inklusive Rechtschreibfehlern – abgeschriebenen Text des ersten Eintrags bei Google besteht, und dass sie dafür nicht kritisiert werden.

3. Lehrerinnen


Ausstattung

Was an technischer Ausstattung für eine Schule zu wünschen ist, ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Wichtig ist jedenfalls: Kreide und Tafel sind ein sehr flexibles Medium! (Der Scherz von „Ende der Kreidezeit“ ist inzwischen reichlich abgenutzt.)


Analog ist oft besser als digital

Was hier gesagt wird, ist natürlich vom Fach abhängig. Ich beschränke mich hier auf kurze Anmerkungen zu den Fächern, bei denen ich einen Einblick habe.

Chemie:

Um eine Vorstellung von der räumlichen Struktur von Molekülen zu gewinnen, kann man computergenerierte Visualisierungen nutzen. Das ist gut und geht schnell (vgl. z.B. hier). Besser, zumindest für den Anfang, ist es jedoch, die Moleküle mit einem Baukasten selbst zu bauen und in den Händen hin und herzudrehen.

Mathe:

Viele Taschenrechner bieten die Möglichkeit, gleich komplette Wertetabellen für Funktionen zu erstellen. Das geht schnell. Wenn man die Wertetabelle aber zu Fuß erstellt und dabei auch Zwischenergebnisse (Resultate von Teilen des Funktionsterms) tabelliert, versteht man besser, was die einzelnen Teile des Funktionsterms für die Kurve bewirken.

Die Entstehung einer Sinuskurve durch Projektion einer Kreisbewegung kann man mit einem Computerprogramm visualisieren (vgl. z.B. hier). Besser ist es aber, wenn die Schülerinnen selbst diese Situation enaktiv darstellen (eine geht gleichmäßig im Kreis, andere parallel auf tangentialen Geraden hin und zurück).


Fußnoten

* generisches Femininum: die Männer und Diversen sind mitgemeint        zurück

1 Es gibt Fachleute, die es für besser halten, sogar Informatik ganz ohne Computer zu unterrichten        zurück

2

Witzigerweise wird der Begriff Algorithmus in dem Moment populär, in dem er aus der Forschung zu künstlicher Intelligenz verschwindet. Heutzutage wird nicht mehr versucht, künstliche Intelligenz per Algorithmus herzustellen, sondern sie mittels neuronaler Netzwerke zu simulieren. Da verstehen dann auch Programmiererinnen nicht mehr, wie das funktioniert, denn das neuronale Netz wird am Objekt trainiert (bei enormem Stromberbrauch) und lernt selbst.        zurück

3 In akademischen Kreisen sind Seiten bekannt, über die man illegal auf copyrightgeschütztes Material zugreifen kann, z.B. Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften. Mir leider nicht.        zurück

5 Maya Escueta et al. (2017), Education Technology: An Evidence-Based Review. NBER Working Paper Series.        zurück

6 Shulman R. (2017, May 17): Global Ed-Tech Investments and Outlook. 10 Ed-Tech Companies you should know about. Forbes        zurück

7 Sigrid Hartong (2019): Learning Analytics und Big Data in der Bildung. Zur notwendigen Entwicklung eines datenpolitischen Alternativprogramms.        zurück

8 Vgl. Jürgen Kaube, Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems. zu Klampen Verlag, Springe 2015        zurück

9 Zu welchen Ergebnissen der exzessive Gebrauch von Internetwörterbüchern führt, kann man z.B. am stilistisch unsicheren und verfehlten Englisch der Obertitel in der Frankfurter Oper sehen.        zurück